LaLia wrote: Mon May 05, 2025 9:49 pm
So jetzt habe ich deine Geschichte auch ganz gelesen und wie schon über alle Teile hinweg: Super.
Gerade der Anfang mit dem Gespräch zwischen Eugene und Eleanor war toll, auch wenn ich ja mal geäußert hatte, dass ich ihr Verhalten vll. gar nicht als so übergriffig empfunden hatte und daher ihre Reue hier auch nicht so eine Rolle gespielt hätte. Und gerade da wäre für mich ein Logikfehler: Eugene weiß noch nicht was wirklich los war, er hat es als übergriffig empfunden, aber trotzdem ein Moment der körperlichen Nähe? Also wenn ein Freund bei mir zu weit gehen würde, etwas unangemessenes machen würde, würde ich versuchen körperliche Nähe zu meiden um diese Gefahr sozusagen zu minimieren. Aber es passte in deine Geschichte, weil es schnell wieder die Vertrautheit brachte.
Dass sie ihm dann alles erzählt passt dadurch sehr gut und ist dann auch ein durchaus passendes Ende, wobei natürlich Fragen offen bleiben. In gewisser Weise hast du am Ende die gleiche Situation wie ich bei "Im Netz des Fremden". Beantwortet man noch die offenen Fragen oder lässt man sie offen und überlässt es der Fantasie des Lesers? Eine Gerichtsverhandlung draus machen wäre eine Möglichkeit oder ne rape & revenge Sache draus machen. Ich finde du hast da eine gute Entscheidung getroffen.
Sehr gut fand ich übrigens dann auch noch den Beitrag danach, wo du auf alles nochmal im Detail eingehst. Alles in allem ist das die Geschichte, die ich von dir am besten finde und meine beliebteste Episode war, wie schon erwähnt, die mit dem Fahrstuhl.
So, hat etwas länger gedauert, aber hier ist die versprochene Antwort.
Was die Übergriffigkeit ihres Verhaltens angeht: Ich will natürlich nicht sagen, dass ihr Verhalten in irgendeiner Form mit dem Robertsons vergleichbar wäre. Was sie gemacht hat ist sich auf einen Freund zu setzen, sie versucht ihn zu küssen, er blockt das physisch ab und dann greift sie ihm trotzdem in den Schritt. Auf gut Deutsch, sie hat ihn gegen seinen Willen begrapscht. Das ganze hat eine besondere Würze, weil sie von seiner Missbrauchserfahrung weiß und das trotzdem tut. Ich würde das sehr klar als übergriffig bewerten und ich glaube ganz ehrlich, wenn ich die Situation hier mit einem Mann, der auf einer Frau sitzt, beschrieben hätte und er ihr in den Schritt greift, würden wir die Diskussion glaube ich nicht führen. Wir sollten vorsichtig sein sexuelle Gewalt gegenüber Männern nicht zu verharmlosen und nicht in ein "Soll er doch froh sein, dass sich eine hübsche Frau so an ihn ranmacht!"-Narrativ abrutschen. Also hier würde ich ganz klar sagen: Übergriffig, ja. Durch seine Missbrauchserfahrung schlimmer als so ein Grapschen sonst vielleicht wäre. Aber ein unverzeihliches Verbrechen ist es natürlich nicht.
Warum lässt sich Eugene nun auf diese Nähe ein? Zum einen ist er klug genug um zu verstehen, dass irgendwas los ist. Er weiß nicht was, aber ihm ist klar, dass irgendwas gravierendes passiert ist. Dann sind einige Tage seitdem vergangen, in denen Eleanor seinen Wunsch nach Abstand respektiert hat. Die beiden wohnen ja immer noch zusammen und werden sich in ihrer gemeinsamen Wohnung gesehen, vielleicht auch über den Putzplan und die Einkäufe gesprochen haben. Und es ist seitdem nichts mehr passiert. Und schließlich entschuldigt sie sich ohne Ausflüchte für ihr Verhalten anzubieten. Sie sagt ganz offen "ich habe dich benutzen wollen. Ich wollte deine Gutmütigkeit ausnutzen, um mich von meinen eigenen Problemen abzulenken. Aber das ist keine Rechtfertigung. Es tut mir so leid." Ich weiß nicht, ob sich schon mal jemand so bei dir für Fehlverhalten entschuldigt hat. Meiner Erfahrung nach passiert das nicht oft. Die meisten Menschen versuchen sich in ihrer Entschuldigung noch zu rechtfertigen oder die Schuld irgendwie auf beide Schultern zu verteilen. Sie sagt nicht "Ja, ich hatte einen schlechten Tag, und ich weiß es war falsch, das tut mir leid, aber du hast auch ein bisschen überreagiert, oder?" sondern "Mein Verhalten war falsch. Ich und ich allein bin verantwortlich. Ich wollte dich nicht verletzten, aber ich habe es getan. Es tut mir leid." Meiner Erfahrung nach, wenn jemand sein Fehlverhalten so "owned" wie Eleanor in diesem Moment, hat das etwas sehr beruhigendes und deeskalierendes. Damit der Mensch, bei dem du dich entschuldigst, darauf nicht mit Entgegenkommen reagiert, muss schon etwas sehr gravierendes passiert sein. Und in der Geschichte ist diese aufrichtige Entschuldigung exakt der Moment, in dem Eugenes Körpersprache sich entspannt und er bemerkt "Okay, sie ist wieder die Eleanor, die ich kenne."
Wie man in einer Geschichte mit offenen Fragen umgeht, ist nicht ganz einfach. Als Autorin stelle ich mir zwei Fragen. Erstens: Ist die offene Frage für die Handlung wichtig? Zweitens: Ist die Frage wirklich offen?
Die Frage, ob Anthony und Marla ein Paar bleiben ist für die Handlung weder wichig noch ist die Frage wirklich offen. Die Geschichte macht klar, dass selbst Anthony seine Lage als aussichtslos ansieht. Wenn Eleanor ihn anzeigt, und die Schlussszene legt das nahe, wird er seinen Job und seine Frau verlieren und ins Gefängnis wandern. Ich könnte nun das Gespräch zwischen ihm und seiner Frau darstellen, aber wenn es nur auf die erwartbare Konsequenz hinausläuft, dass sie ihn verlässt, was ist dann gewonnen? Nichts. Hier gibt es keine unaufgelöste Frage, die für die Handlung wichtig und noch zu beantworten wäre. Es gibt vielleicht Neugier, wie dieses Gespräch aussehen könnte, aber für die Erählzung der Geschichte hat das keine Funktion.
Und um hier einen Unterschied zu Im Netz des Fremden zu ziehen, wo du Probleme hattest, was du mit dem Vermieter machen sollst. Du hast wahrscheinlich schon mal von
Chekhov's Gun gehört? Das ist das Bild, dass eine Pistole, die in einer Geschichte erwähnt wird, irgendwann auch abgefeuert werden muss. Herr Schöller und seine Beziehung zum Fremden hast du zu so einer Chekhov's Gun in deiner Geschichte gemacht, aber nie wirklich abgefeuert. Und das ist das Problem, dass du am Ende in deiner Geschichte hattest und deshalb im Epilog versucht hast aufzulösen. Ich hätte ein ähnliches Problem zum Beispiel gehabt, wenn Ich Eleanors physische Stärke nie zur Geltung gebracht hätte. Ich habe sie von Anfang an als stark und kampferfahren beschrieben und wenn das nie von Bedeutung für die Handlung gewesen wäre, wäre das zutiefst unbefriedigend gewesen. Sie von ihrer Kraft in der Geschichte Gebrauch machen zu lassen in exakt dem Moment, in dem sie sich befreit, ist der Moment, in dem ich Chekhov's Gun abfeuer.
Ich finde es schön sich mal so über Storytelling zu unterhalten.

Danke dir nochmal Lia fürs Lesen und Kommentieren. Du hast mir viel Freude bereitet.